Wie wir über uns selbst urteilen

Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, beginne ich immer, zu reflektieren. Was habe ich dieses Jahr gelernt? Was war gut, was war schlecht? Was will ich mit ins neue Jahr nehmen, und was nicht?
Ich habe so einiges gelernt dieses Jahr. Über mich selbst, die Liebe und das Leben.
Eine Erkenntnis erscheint mir besonders wichtig und möchte sie deshalb gerne mit der Welt teilen.
Dazu eine kurze Geschichte vorab:
Zu Beginn dieses Jahres fing ich an zu studieren. Was einem als Erstsemester schnell auffällt, ist, dass die ersten zwei Semester von den Fächern her noch nicht allzu spannende Sachen im Repertoire haben. Da muss jeder Student einfach durch. Wo man auch durch muss, ist Statistik. Statistik sollte mich im zweiten Semester erwarten und ich hatte im ersten Semester schon meine Zweifel.
Ich war doch schon immer eine Niete in Mathe, wie soll ich denn Statistik überstehen, das wird doch von allen Studenten gehasst! Ich sah schon meinen Schnitt flöten gehen und hatte deswegen nur wenige Gründe, mich auf das zweite Semester zu freuen. Aber am Ende des ersten Semesters sprach ich mit jemandem, der Statistik gerade hinter sich hatte. Mit 1,0.
Wow, der muss ein Genie sein, dachte ich mir.
Was er mir dazu zu sagen hatte, stellte sich als unglaublich weise heraus: Man darf nicht mit dem Gedanken an Statistik heran gehen, dass es sowieso nichts wird. Statistik ist nicht schwer, aber viele sehen das nicht, weil sie von Anfang an negative Vorurteile haben. Lass es einfach auf dich zu kommen und schau, wie du zurecht kommst.
Und aus irgendeinem Grund habe ich mir diesen Rat zu Herzen genommen. Ich habe mir von da an keine Sorgen mehr gemacht. Ich habe Statistik angenommen, ohne mir Gedanken darüber zu machen,  ob ich es jetzt mag oder nicht. Ich habe alle Aufgaben gemacht, mich gefreut, wenn am Ende des Zahlenbergs ein richtiges Ergebnis stand und gewann deshalb mehr und mehr Selbstvertrauen. Und jetzt am Ende des zweiten Semesters habe ich Statistik hinter mir. Mit 1,0. Und dadurch wurde mir klar, dass ich keine Mathe Niete bin. Gut, Statistik ist keine höhere Mathematik, aber damals in der Schule hätte ich das nicht gepackt. Aus vielen Gründen: Zum einen mein Umfeld. Weil damals alle schon irgendwie gewohnt waren, dass ich Mathe nicht kann: Meine Lehrer, meine Klasse, meine Eltern, meine Nachhilfe. Durch all diese Menschen wurde ich in die Schublade "Mathe-Niete" gesteckt. Natürlich nicht böswillig oder mit Absicht, aber es hatte dennoch Auswirkungen. Und weil ich schon als Kind nicht gut in Mathe war, habe ich diese Schublade als einen Teil meiner Persönlichkeit angenommen. Darüber habe ich mich definiert. Sogar ziemlich stark.
Jetzt in der Uni war alles neu. Die Professoren, meine Kommilitonen, und die Tatsache, dass ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnte. (Natürlich liebe ich meine Eltern, versteht das nicht falsch!).
Durch das neue Umfeld, was mich noch in keine Schublade gesteckt hatte, konnte ich mich komplett neu definieren. Ich war so motiviert, es allen zu beweisen, wollte endlich mal überdurchschnittlich sein und abgehen wie eine Rakete. In der Schule waren all diese Vorurteile schon so verankert, dass ich keinen Raum dafür hatte. Ich war durch das Umfeld, aber vor allem auch durch mich selbst gefangen.
Und diese Erkenntnisse lässt sich auch auf andere Lebensbereiche übertragen.
Als ich klein war und meine Eltern Besuch bekamen, war ich oft ziemlich still und unscheinbar. Meine Mutter erklärte dann immer, dass ich nunmal schüchtern sei. Und das hörte ich so oft, dass ich das irgendwann als einen Charakterzug annahm und mir selbst sagte, ich sei nunmal schüchtern.
Aber warum muss ein Gesetz aus meiner Kindheit denn heute immer noch gelten? Wer sagt mir, dass ich schüchtern bin, außer mir selbst? Beziehungsweise sollte es mir heute doch egal sein, was andere glauben wer ich bin? Mein Charakter gehört mir und sollte deshalb nur von mir definiert werden. Und wenn ich nicht mehr schüchtern oder eine Mathe Niete sein will, dann muss ich aufhören, mir das ständig zu sagen. Ich kann mich jederzeit neu definieren. Ich kann sein wer ich will. Und ihr könnt das auch.