Die Realität

Was ist das Bitterste, das Schlimmste, das Härteste auf der Welt?
Die Realität.
Jeder von uns lebt doch eigentlich in seiner eigenen, verzerrten Welt. Unsere Gedanken sind die Mauern, in denen wir unser Leben verbringen.
In unseren Gedanken geschehen ständig filmreife Szenen, wir haben weltverändernde Gespräche, gestehen unsere Liebe, sagen jemandem so richtig die Meinung, küssen die Person unserer Träume und reisen an wundervolle Orte, sind spontan und irgendwie eine bessere Version unserer selbst.
Unsere Augen sind der Filter, durch die wir die Realität wahrnehmen und dadurch kommt sie verkehrt in unserem Kopf an. Wie missdeuten Blicke und Worte, beziehen alles, was passiert, auf uns, weil wir der Mittelpunkt unserer Welt sind und sich alles um uns dreht.
In unseren Gedanken wartet diese eine Person an diesem einen Ort auf uns um uns endlich das zu sagen, was wir hören wollen.
Doch die Realität sieht anders aus. Ganz und gar anders. Und eigentlich wissen wir das, zumindest ganz tief im Unterbewusstsein. Doch wir belügen uns selbst, weil wir uns sonst eingestehen müssten, dass die Hoffnungen umsonst sind. Und deshalb lassen wir den Film in unserem Kopf weiterlaufen. Um uns nicht selbst zu zerstören.
In der Wirklichkeit wird sich diese eine Person nämlich niemals melden. Weil sie nicht einmal ahnt, was in uns vorgeht. Bis wir irgendwann dabei zusehen können, wie diese Person die Hand einer anderen hält. Schicksal ist ein Mythos. Wir warten immer darauf, dass das Glück von allein zu uns kommt, jedoch vergebens.
Wir müssen unser Glück schon selber in die Hand nehmen. Aber wir haben Angst, es zu riskieren. Solange wir nur hoffen, passiert zwar nichts, aber wir zerstören auch nichts. Wenn wir uns aufraffen würden, steht möglicherweise etwas auf dem Spiel. Aber was haben wir denn davon, wenn wir sitzen bleiben? Stillstand ist zwar bequem, aber bringt uns nicht weiter. Entweder wir bekommen am Ende, was wir wollen, oder eine Lektion, die uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Genau davor haben wir Angst. Vor dem Boden der Tatsachen. Je höher wir fliegen, je mehr wir uns von der Realität entfernen, desto tiefer und härter fallen wir am Ende. Und das tut eine Zeit lang ganz schön weh. Vielleicht bleiben sogar dauerhafte Schäden. Und das wollen wir nunmal nicht riskieren. Deshalb bleiben wir sitzen. Und hoffen weiter. Liegen nachts wach. Verlieren uns in Büchern und Filmen, die unsere Hoffnungen nähren.
Uns so wird die Verleugnung immer weiter gehen.
Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit, wenn jeder die Welt anders wahrnimmt? Wer bestimmt, was wirklich und real ist? Gibt es überhaupt jemanden, der sich dieses Recht heraus nehmen kann?
Wie kann es eine Wahrheit geben, wenn jeder in seiner eigenen Realität lebt.
Vielleicht gibt es ja nicht nur eine Wahrheit. Vielleicht gibt es Milliarden unterschiedlicher Wahrheiten. Und keine davon ist falsch, denn niemand wird jemals etwas beweisen können.


2 Uhr Nachts

Hallo liebe Leser!

2 Uhr Nachts kennt alle Geheimnisse, Träume und Wünsche.
2 Uhr Nachts ist die Zeit, nach der es erst richtig interessant wird.
Late Night Talks sind die ehrlichsten und vertrautesten, egal ob betrunken oder nicht.
Dieses Gefühl, wenn man fast schon einschlafen will und dann aber nochmal richtig wach und aufgedreht wird.
Dieser Moment, wenn man um 2 Uhr Nachts nochmal spontan loszieht.
Wenn man aufblickt und merkt: "Oh, schon 2 Uhr Nachts!"
2 Uhr Nachts ist immer die ehrlichste Zeit.
Die Straßen sind leer, die Bars sind voll. Um 2 Uhr Nachts ist man unter sich.
Es ist der Moment, in dem eine neue Flasche geöffnet wird, weil man weiß, dass die Nacht noch jung ist und noch so einiges passieren kann.
Oder wenn man spät noch aus seinem Bett geholt wird, weil sich um 2 Uhr Nachts die unterdrückten Emotionen in Form von Tränen an die Oberfläche kämpfen.
2 Uhr Nachts hat zwei Seiten. Auf beiden endet die Nacht meist auf dem Grund einer Flasche, auf dem sich dann entweder eine Erinnerung oder eine äußerst peinliche Nachricht an den falschen Menschen findet.
Dinge, die im Licht des Tages verwerflich erscheinen, sind um 2 Uhr Nachts plötzlich okay.
Nachrichten um 2 Uhr Nachts haben eine ganz andere Bedeutung als während des Tages.
Die Gespräche gehen tiefer, das Lachen wird lauter und Erkenntnisse treffen einen härter.
Es ist 2 Uhr Nachts als es an ihre Tür klingelt. Es war einer der Nächte, in der der Versuch zu schlafen von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. In der auch der langweiligste Podcast und das tausendste Schaf ihr nicht helfen konnten. In der ihr Gedankenstrom wieder unerträglich laut war. Manchmal wünschte sie, ihr Kopf wäre ein Radio, das man einfach abdrehen oder wenigstens den Sender wechseln könnte. Manchmal fühlte es sich tatsächlich so an, besonders in Situationen, in denen sie nicht wusste, was sie sagen sollte und sich ihr Kopf mit einem einzigen nervtötenden, alles unterdrückenden Rauschen füllte bis sie aus ihrem Gedankentunnel wieder rauskam.
Sie war schon fast an der Tür, als sie merkte, dass sie heute nur ein dünnes weißes T-Shirt zum Schlafen angezogen hatte und das vielleicht gleich zu unangenehmen Blicken führen könnte, je nach dem, wer sich hinter der Tür befand. Also huschte sie nochmal zurück in ihr Schlafzimmer und band sich ihren Morgenmantel um, der sich immer wie eine beschützende Umarmung um sie legte und ihr das Gefühl gab, ihr Leben im Griff zu haben, allein durch die Tatsache, dass sie ihn besaß.
Durch den kalten Fließenboden fühlte sie sich durch jeden barfüßigen Schritt wacher. Das änderte sich jedoch in dem Moment, in dem sie das Licht im Flur anknipste und sich ihre Augen plötzlich verengten. Sie fühlte sich von der Lampe verraten, die ihr grelles Licht unbeirrt im Flur verteilte und dadurch alle verborgenen Dinge plötzlich zum Vorschein kamen. Die Schuhe, die seit Monaten nicht geputzt worden waren. Der Teppich, der dringend einen Staubsauger brauchen würde. Der Müllbeutel, der runtergebracht werden sollte. Der leere Pizzakarton.
Sie öffnete die Tür. Draußen stand David, triefnass und bibbernd vor Kälte. "Hey Vic. Kann ich reinkommen?" Sie nickte und machte Platz für David, der sie im Vorbeigehen streifte und ihren Morgenmantel mit Regenwasser benetzte. Er streifte sich die Schuhe ab und hängte seine Jacke an den überfüllten Garderobenständer. Im Licht der Flurlampe fielen ihr seine zerzausten Haare und die verquollenen, roten Augen auf. Auf seiner Hose befand sich links unten ein großer roter Fleck. "David?", fragte sie leise. Er blickte sie an. "Was ist passiert?".
"Ich kann jetzt noch nicht darüber reden. Ich brauche erstmal Alkohol." Sie nickte und ging an ihm vorbei in die Küche, um im Kühlschrank die halbleere Flasche Sangria rauszuholen. "Reicht dir das? Mehr habe ich leider nicht da."
"Besser als nichts", antwortete er und sie stellte sich auf die Zehenspitzen um die extra großen Gläser vom obersten Regal zu holen.
"Einmal vollmachen bitte."
Sie füllte seins bis zum Rand und ihrs bis zur Hälfte, dann war die Flasche leer.
Er nahm einen großen Schluck.
"Warst du bei ihr?", fragte sie.
"Ja."
"Hast du ihr gesagt, dass du sie liebst?"
"Ja."
"Und sie hat nicht gut darauf reagiert?"
"Sie hat mich angesehen als wäre das das Abwegigste auf der Welt. Als wäre ich schwach oder jemand mit richtig dummen Ideen. Noch nie habe ich mich so gedemütigt gefühlt. Mir war ja von Anfang an klar, dass sie keine Beziehung will, aber verdammt, tut mir Leid, ich habe leider Gefühle. Ich habe noch nie jemanden wie sie kennen gelernt, noch nie so empfunden, aber okay, sie will keine Beziehung, das ist ihr zu anstrengend und sie will sich auf ihr Leben konzentrieren. Und alles was ich will, ist, sie glücklich zu machen. Aber gut, dann halt nicht. Meine Brille ist noch bei ihr. Aber nicht mit Absicht, falls du das jetzt denkst. Sie hat mich gestört und ich habe sie abgenommen und dann vergessen."
"Soll ich sie holen?"
"Nein lass nur, das mache ich irgendwann schon noch."
"Habt ihr euch denn so richtig gestritten?"
"Ich wollte ihr meine Gefühle nahe bringen und das ich keine verpflichtende Beziehung brauche aber sie wollte mich, glaube ich, nicht verstehen. Sie sieht das alles so negativ."
"Wahrscheinlich muss sie sich selbst erstmal klarmachen, was sie will."
"Und ich bleibe als Kollateralschaden dabei auf der Strecke?"
"Naja du hast ja dein eigenes Leben. Konzentriere dich doch erstmal auch auf dich und gib ihr Zeit, ihre Gedanken zu sortieren. Das ist ein Prozess."
"Sie könnte es uns allen auch leicht machen und einfach mit mir zusammen sein. Ich liebe sie doch, was will sie denn noch?"
"Vielleicht einen Menschen, den sie auch liebt?"
"Auf welcher Seite stehst du eigentlich"
"Das war jetzt gar nicht gegen dich, aber versetze dich doch mal in ihre Lage."
"Aber wir verstehen uns so gut. Sie hat mir immer wieder gesagt, wie viel Spaß sie mit mir hat. Wir haben schon miteinander geschlafen. Also irgendwas muss sie doch für mich empfinden."
"Vielleicht, aber diese Gefühle müssen von selbst an die Oberfläche kommen, das kannst du nicht erzwingen."
Schweigen.
David nahm einen letzten Schluck, dann war sein Glas leer bis auf eine rote Lache roten Sangrias auf dem Boden seines Glases.
Ihres hatte sie bereits geleert, denn sein Redeanteil war größer und ihr Glas von Anfang an weniger voll gewesen.
Die alles verschluckende Stille, die sich nur um 2 Uhr nachts über einen legt, ließ beide ihren Gedanken nachhängen. Auf diese ganz seltsame Art und Weise, in der man nicht blinzeln kann sondern einen unbestimmten Punkt in sich aufzusaugen versucht ohne ihn richtig anzusehen. „Willst du kalte Pizza? Ich hab noch welche von vorhin, aber im Kühlschrank“
„Etwas besseres habe ich wohl nicht verdient“
„Hey beleidige nicht die Pizza!“
„Hast ja Recht“
Und dann aßen sie kalte Pizza. So wie es sich um 2 Uhr Nachts gehört.
„Ich bin es leid zu kämpfen, Vic“
„Ich weiß.“
„Ich kann nicht ewig so weitermachen.“
„Ich pass auf dich auf. Nur wenn du weiter kämpfst, kriegst du am Ende auch, was du willst“
„Ich hoffe es“
„Du hast es dir verdient. Und immer wenn du hinfällst, habe ich kalte Pizza für dich“
Er grinste. Sie zwinkerte ihm zu und schob sich das restliche Pizzastück in den Mund.
„Soll ich dir die Couch frei räumen?“
„Lass, ich nehme einfach den Bus.“
„Vergiss den Bus, du schläfst hier, ist doch kein Thema.“
„Morgen ist Montag“
„Scheiß auf Montag.“
„Okay, aber die Couch räume ich schon selber frei.“
„Okay.“
„Danke“
„Kein Ding. Machst du das Licht aus?“
Er nickte und sie verzog sich wieder in ihr Schlafzimmer. Sie lehnte sich an die geschlossene Tür, schloss die Augen und atmete tief ein. Sie liebte es, für andere da zu sein, ihre Couch war wie ein Hafen für Gestrandete mit gebrochenem Herzen. Aber sie ließ sich immer selbst von den Problemen anderer mitreißen, sodass dies auch an ihren Kräften zerrte. Allerdings konnte sie dadurch auch ihre eigenen Probleme verdrängen, denn irgendwie schienen die Probleme anderer immer eine Lösung zu haben, nur ihre eigenen nicht. Nicht, das sie große Sorgen hätte. Sie hatte im Grunde die ganz normalen Hürden, die eine einundzwanzige Studentin mit wenig Geld in einer Kleinstadt nunmal hat. Eigentlich war sie bis jetzt in ihrem Leben ganz gut klargekommen. So gut, dass sie sich gleichzeitig auch um all die anderen Probleme kümmern konnte. Aber um 2 Uhr Nachts fiel es ihr immer schwer, die Gedanken zu verdrängen. Weshalb sie um die Zeit auch meistens wach lag. Weil das die einzige Zeit war, in der sie für sich sein konnte. Wenn nicht gerade jemand vor ihrer Tür stand. 
Sie streifte ihren Morgenmantel ab und ließ sich in ihr Bett fallen. Durch den Türspalt fiel noch Licht und sie hörte ihre Couch knarzen. Immerhin war sie nicht allein. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Müdigkeit über sie. Und noch bevor der Stundenzeiger die 3 erreichte, war sie eingeschlafen.