Guilt Trip

"Du erkältest dich noch."
"Lass mich", erwiderte sie gereizt und streifte die dünne Jacke über. 
Anstatt zu antworten schüttelte er bloß verständnislos den Kopf. 
"In drei Stunden bin ich zurück", rief sie ihm noch im Hinausgehen zu. 
"Okay, vergiss die Milch nicht." Doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen. 
Er ging zum Fenster und sah ihr nach. Beobachtete, wie sie durch den tiefen Schnee stapfte und ihre Arme dabei um ihren Körper schlang. Dies ließ einen Hauch Selbstgefälligkeit in ihm hochkommen. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Jetzt war ihr kalt und sie würde bestimmt krank werden, dachte er.
Wenn er doch zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Dass er sie ein letztes Mal durch den Schnee stapfen sehen würde. Ein letztes Mal ihre Sturheit die Oberhand gewinnen würde. Er hätte alles anders gemacht. Er wäre ihr nachgerannt und hätte ihr seinen wärmsten Pullover in die Hand gedrückt. Er hätte sie in der Türschwelle noch einmal zurückgerufen, um sie zu küssen und ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte. Letztendlich hätte er sie wahrscheinlich gar nicht gehen lassen, sondern hätte sich selbst in den Schnee gewagt.
Dann wäre er nicht unter einer Lawine von Trauer und Vorwürfen erstickt worden. Wäre nicht von seinen Schuldgefühlen zerfressen worden, jedesmal, wenn es schneite, jedesmal, wenn er sich im Haus umblickte, jede Nacht, wenn er auf ihrer Seite des Bettes lag und jeden Tag, wenn ihn einfach alles an sie erinnerte. Ihr Lieblingstee, der ihm entgegenkam, wenn er in der Küche die Schublade öffnete. Wegen diesem Tee schmeckten ihre Küsse morgens immer nach Zimt. Oder die Zimmerpflanze im Wohnzimmer, um die sie sich mit Hingabe gekümmert hatte und die deshalb inzwischen genauso groß war wie sie. Oder das Radio, dass all die fröhlichen Lieder spielte, zu denen sie immer getanzt hatte. Es war wie ein Instinkt. Sobald Musik gespielt wurde, tanzte sie. Nichts konnte sie davon abhalten. Oder die Bäume draußen im Garten. Bei Wind ging sie manchmal hinaus, setzte sich auf den Rand der Terrasse und lauschte dem Rauschen der Blätter.
Jeden Tag wurde er aufs Neue an all das und noch viel mehr erinnert. Bis er irgendwann den Drang verspürte, alles niederzubrennen. Doch das würde bedeuten, sie vollkommen auszulöschen. Er wollte die Erinnerungen nicht verlieren. Auch wenn das bedeutete, jeden Tag das Leid des Verlustes ertragen zu müssen. So blieb wenigstens ein Stück von ihr für immer bei ihm.
Denn als er ihr das letzte Mal hinterher blickte, ahnte er nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Alles, was er empfand, war nur ein kleines bisschen Selbstgefälligkeit, weil er Recht behalten hatte, und sah, wie sie fror.