Obdachlos

In einer Stadt ist bist du erst dann zu Hause, wenn sie dich richtig fertig macht, um dir dann die Hand zu reichen und dich aufzurichten.
 Retrospektiv betrachtet sind einige Begebenheiten, die mir im Leben passieren, schon sehr merkwürdig.
Ich musste meinen geliebten Bodensee verlassen. Für ein dreimonatiges Praktikum in einer mir nicht unbekannten Stadt. Ein Vierteljahr meines einundzwanzigsten Lebensjahres muss dafür herhalten. Rückblickend sind drei Monate nie lang, aber wenn man drei Monate vor sich hat, ist das doch eine ordentliche Zeitspanne. 12 Wochen, 90 Tage, ein Viertel Jahr. In der allerersten Woche kam ich bei einer guten Freundin unter und abends hörten wir einen Podcast, in dem gesagt wurde:
Du weißt nie, wo dein Limit ist. Du weißt nur, wo es nicht ist.
Schon eine Woche später sollte ich mein Limit kennen lernen.
Ich hätte ja nicht erwartet, dass die Wohnsituation so viel ausmachen kann. Mit Wohngemeinschaften hatte ich noch nie gute Erfahrungen gemacht. Das Zimmer, in welchem ich die restliche Zeit wohnen sollte,  war kein zu Hause. Ich will niemanden mit Details langweilen und objektiv kann ich auch gar nicht sagen, warum genau ich jeden Abend ewig in der Arbeit geblieben bin, um nicht in die WG zu müssen. Es war einfach kein Ort, an dem ich nach einem langen, anstrengenden Tag nach Hause kommen und mich erholen konnte. Ich war 2 Wochen lang durchgehend angespannt. Und nach nur zwei Wochen bin ich zusammengebrochen. Ich wollte schon mein Praktikum abbrechen, aber nicht wegen der Stelle, sondern wegen allem drum herum. Gleichzeitig sagte ich mir, dass das doch nicht sein kann. Bin ich etwa so unbelastbar?
Letztendlich ist es vollkommen egal, wo die Grenzen liegen. Wenn die Grenzen überschritten sind, dann sind sie überschritten.
Für mich stand eines fest: Ich musste da raus. Einfach raus. Jetzt.
Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. 
Mein Lichtlein war eine Adresse. Von einer Person, die ich nicht kannte. Aber an jenem Abend habe ich aus der Verzweiflung heraus einfach alles und jeden angerufen, der jemanden kennt, der jemanden kennt, und so weiter. Noch am gleichen Abend habe ich das nötigste zusammengepackt und bin geflüchtet. Die Entscheidung war gefallen. Ich werde keine einzige Nacht mehr dort verbringen.
Ich wurde warmherzig empfangen, sitze jetzt in einem wunderschönen verwilderten Garten und esse Mangoeis. Der Knoten hat sich gelöst. So langsam kommt alles wieder ins Rollen. Ich weiß nicht, was diesen Sommer noch alles passieren wird, aber ich freue mich auf die kommenden zwei Monate. Auch wenn ich den Sommer nicht am Strand in der Sonne verbringen kann, fühle ich mich gerade sehr lebendig. Weil ich weiß, dass ich gerade eine wichtige Erfahrung mache und weit außerhalb meiner Komfortzone verweile.
Ich glaube nicht, dass am Ende immer automatisch alles gut wird. Ich denke, mann muss für sein Glück kämpfen. Aber der Kampf lohnt sich. Meistens.

Stuttgart, Juni 2019