Tanz im Regen

Wegen des starken Regens konnte sie durch die Windschutzscheibe kaum den Verkehr erkennen. Die Welt draußen sah aus wie verlaufene Wasserfarben auf Papier. Eine verschwommene Mischung aus Grau und Rot. Bei jedem Schlagloch klirrten die Glasflaschen im Kofferraum. Sie fuhr auf eine Ampel zu, die gerade von Grün auf Orange schaltete. "Los, fahr!", rief er neben ihr genervt, doch sie war schon am bremsen. "Boah, die hättest du doch locker noch gekriegt", stöhnte er.
"Siehst du nicht, dass die Straße unter Wasser steht? Schonmal was von Aquaplaning gehört?", entgegnete sie ebenso genervt. "Jetzt übertreibst du schon wieder", antwortete er vorwurfsvoll. "Okay, würdest du jetzt lieber verletzt im Graben liegen als hier 2 Minuten im Trockenen auf Grün zu warten?", blaffte sie ihn wieder an.
"Ich will einfach nur nach Hause", murrte er.
"Oh, ist es etwa so schlimm, mit mir einkaufen zu gehen?"
"Was, wie kommst du denn darauf? Nein ich liebe es über alles, wenn ich mich für alles, was ich in den Einkaufswagen lege, vor dir rechtfertigen muss", sagte er mit deutlich sarkastischem Unterton.
"Ich will doch nur, dass du ein kleines bisschen mehr auf deine Gesundheit achtest."
"Und ich will mir nicht alles verbieten lassen, was ich mag"
"Okay, ich diskutiere jetzt nicht nochmal mit dir darüber", rief sie dazwischen.
"Ich hab auch keine Lust mehr", fauchte er.
Die Ampel schaltete auf Grün. Niemand sagte mehr etwas, als sie losfuhr. Und es blieb erstickend still, bis sie endlich an dem Parkplatz vor ihrer Wohnung vorfuhren. Der Parkplatz war bis auf eine kleine Lücke ganz hinten voll besetzt.
"Toll, jetzt dürfen wir alles über den ganzen Parkplatz schleppen", beschwerte er sich.
"Ja, dafür kann ich doch nichts", seufzte sie entnervt.
Sie stellte das Auto ab und kaum hatte sie den Zündschlüssel gezogen, war er schon ausgestiegen und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie nahm sich einen kurzen Moment, um sich anzulehnen, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Er öffnete den Kofferraum und hantierte mit den Einkaufstaschen herum. "Hey, kommst du und hilfst mir mal oder muss ich wieder alles alleine machen?", bellte er durch das Auto.
Sie kniff die Augen zusammen und schürzte die Lippen. Dann stieg sie aus.
"Du lässt mich hier buchstäblich im Regen stehen", begrüßte er sie als sie um das Auto zu ihm gelaufen kam.
"Lukas, bitte hör auf", sagte sie leise.
Wegen des strömenden Regens fiel es nicht auf, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen.
Jeder griff sich eine Einkaufstasche, bevor sie den Kofferraum zuklappte und ihr Auto zuschloss. Währenddessen lief er schon voraus zur Haustür. Sie ging ein paar Schritte hinter ihm und bemühte sich nicht, aufzuholen. Stattdessen versuchte sie krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken. Wenn sie im Haus waren, würde man sehen, dass sie weinte und das wollte sie auf jeden Fall verhindern.
Sie war so mit sich selber beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie der Regen die Papiertüte nach und nach durchweichte bis diese schließlich an der Seite aufriss und plötzlich alles auf den nassen Asphaltboden krachte und sie nur noch die Henkel in den Händen hielt. "Boah scheiße!", entfuhr es ihr lauter und verzweifelter, als ihr lieb war. Er drehte sich um. "Nein mann, was machst du denn?", schrie er. "Ich mach gar nichts, verdammt, kannst du mal kurz nicht so ignorant sein und mir mit dem Mist hier helfen?", brüllte sie. Das Schluchzen ließ sich nicht mehr unterdrücken und sie sackte neben der auslaufenden Milch auf dem Boden zusammen und vergrub ihr Gesicht in den nassen Händen, die abgerissenen Henkel fielen dabei auf ihren Schoß.
Nach ein paar Sekunden spürte sie, wie er sich vor ihr hinkniete und ihren Kopf in seine großen Hände nahm, um sie dann ganz sanft auf die Stirn zu küssen. Sie schlang ihre Arme um ihn und er hielt sie fest. Und so saßen sie einige Minuten da, der Regen prasselte auf sie herab und ihr Schluchzen ließ langsam nach.
"Komm hoch", flüsterte er ihr irgendwann zu und sie erhoben sich zusammen, immer noch eng umschlungen und als sie wieder aufrecht standen, drückte er ihr nochmal einen Kuss auf den Kopf. Sie begannen, hin und her zu wiegen und schließlich zu tanzen. Als er sich von ihr löste, um sie zu drehen, vertrieb er damit die letzten Tränen und sie kicherte, während sie sich etwas unbeholfen um ihre eigene Achse drehte. Er ließ sie noch einen Schritt von ihm entfernen, bevor er sie wieder an sich ran holte, sie hochhob und durch die Luft wirbelte. Die kreischte kurz auf und warf dann den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und spürte die einzelnen Regentropfen auf ihrem geröteten Gesicht und wie sie die Wut wegwuschen. Als er sie wieder runterließ, musste auch er lachen. Sie sah ihm in die Augen und zog dann mit ihren Händen seinen Kopf zu sich heran, um ihn zu küssen.
Und sie verlor sich mit ihm darin, zusammen vergaßen sie, wer und wo sie waren. Alles was zählte war, dass sie zusammen waren.